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Meine Partnerin ist HSP.

Theoretisch wusste ich das. Aber da HSP (hochsensible Personen) nicht krank sind, konnte ich praktisch nicht viel damit anfangen.

Was es wirklich bedeutet, hab ich erst viele Jahre später erfahren. Da hatten wir schon unzählige Streitereien hinter uns. Immer wieder hab ich mich gefragt: Warum braucht sie soviel Ruhe? Warum zieht sie sich immer wieder zurück – vor allem dann, wenn es unangenehm wird?

Jede Kleinigkeit, aus meiner Sicht,  hat sie aufgeregt: wenn ich mal die Tür zu fest zugeschlagen habe, morgens vor ihr aufgewacht bin. Ich konnte so leise sein, wie ich wollte, für sie war ich der polternde Elefant im Rosenbeet.

Am schlimmsten aber: sie lag immer soviel herum. Mir kam der Verdacht, dass sie im Grunde “faul” sei und dafür diesen Zustand als Ausrede benutzte. Vor allem, weil ich ja oft wie getrieben von meiner Arbeit um die Welt hetzte. Tja, Arzt sein schützt vor Dummheit nicht….

Was sind HSP (Hochsensible Personen)?

Wie schon gesagt, HSP sind nicht per se krank, sie sind aber anfälliger für psychische Störungen, als nicht-HSP-ler. Wenn ich  die strenge wissenschaftliche Brille anziehe, dann ist das ganze Konzept HSP allerdings höchst fragwürdig. Als gäbe es eine magische Linie, ab der man als HSP bezeichnet wird. Gibt es nicht. Es gibt Tests, die aber einfach beeinflussbar sind (Barnum-Effekt*).

Wenn man es einfach herunterbricht, dann reagieren hochsensible Menschen deutlich stärker als andere auf ihre Umwelt, sowohl emotional als auch sensorisch gegenüber Reizen wie Licht und Geräuschen, Gerüchen und Berührungen. Die Pionierin Elaine Aron beschreibt HSP als Menschen, die  sich von Empfindungen überwältigen lassen, ein größeres Bewusstsein für feine Veränderungen in der Umwelt haben sowie eine erhöhte Erregbarkeit und ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen. Das sind doch zum Teil wahrlich positive Eigenschaften! 

Hochsensibilität ist als Kontinuum mit vielen Zwischenstufen zu sehen, es gibt mehr oder weniger hochsensible Menschen, so wie es mehr oder wenige große Menschen gibt.

[*Barnum-Effekt: Wir meinen uns oft durch Beschreibungen in Tests wiederzuerkennen, vor allem, wenn wir ähnliches in der Vergangenheit erlebt haben. Bei einem Test geht es aber nicht darum, OB ich eine bestimmte Diagnose habe, sondern WIE SCHWER ich davon betroffen bin.]

Welche verschiedene HSP gibt es?

Die einen rasten bei den kleinsten Reizen aus (niedrige Wahrnehmungsschwelle), die anderen fühlen sich von  normalen Reize schnell überflutet und die letzte Gruppe fühlt sich von ästhetischer Schönheit sehr stark berührt. Wie sehr das verteilt ist, ist nicht genau bekannt, meistens liegen auch Mischtypen vor.

Wie häufig ist HSP?

Mittlerweile gibt es zahlreiche Studien zu HSP. Diese bestätigen, dass fast ein Fünftel aller Menschen nach den gängigen Tests als “hochsensibel” gelten. Ist HSP also eher ein Massenphänomen und gar nichts Besonderes? Für die vielen Coaches wäre das natürlich wünschenswert, schließlich “muss” all diesen Menschen geholfen werden – aber muss es das wirklich?

Wenn HSP nicht krank sind, worunter leiden sie dann?

Das ist höchst subjektiv. Manche können Lärm, Gerüche nicht ausstehen (dagegen kann man sich schützen), anderen fühlen sich im Alltag durch Leistungsdruck und einen jähzornigen Chef überfordert. Insbesondere Kinder können auf Stress und Druck negativ reagieren, als ihre nicht so sensiblen Mitschüler. Und ja, statistisch gesehen, haben HSP häufiger psychische Störungen als der Durchschnitt – allen voran Angststörungen und Burnout. Ich bezweifle das ein wenig, weil die Tests eher nach negativen Folgen der Hochsensibilität abfragen: erhöhtes Einfühlungsvermögen und ein tieferer Sinn für Ästhetik kann auch viele Vorteile im Leben bieten. Wie so oft im Leben hängt es davon ab, wie das Umfeld gestrickt ist.

Hochsensible Menschen sind wie Orchideen – empfindlich und anspruchsvoll – aber nicht faul. In einer Beziehung gilt sowieso der Grundsatz: Kommunikation ist alles: Ich muss nicht immer das Verhalten akzeptieren, auch nicht, wenn der- oder diejenige hochsensibel ist, aber es entspannt ungemein, wenn ich nicht sofort von meinem Partner eine Antwort auf meinen Redeschwall erwarte – das muss erstmal verdaut werden. Oft kommt die Antwort mit Verspätung Tage nach dem Gespräch.

Die Ursachen von Hochsensibilität

Als Neurologe fasziniert mich Hochsensibilität. Denn offensichtlich schalten einige Teile des Gehirns auf Durchzug, was Informationen betrifft, vor allem im Thalamus, dem “Tor zum Bewusstsein“. Der Thalamus spielt auch eine Rolle in psychischen Störungen wie ADHS und Autismus. Ob diese Störungen mit Hochsensibilität zusammenhängen ist unklar. Hochsensible Menschen sind in der Regel emotional kompetent, zum Teil findet sich aber eine Ãœberlappung mit emotionaler Instabilität. Das ist im einzelnen von der Persönlichkeit des Betroffenen schwer zu trennen.

Untersuchungen mit funktioneller Kernspintomographie könnten da in Zukunft etwas mehr Licht ins Dunkeln bringen.

 

Wie Du mit  Hochsensibilität umgehen kannst: Die 5 E*s

Die Psychologin Moïra Mikolajczak beschreibt fünf emotionale Kompetenzen

  1. E: Emotionen erkennen

Klingt einfach ist im Einzelfall mitunter sehr schwierig. Hochsensible werden oft durch ihre Emotionen überflutet. Was helfen kann: einen ruhigen Ort aufsuchen, durchatmen, einige Minute in Dich hineinfühlen. Welche Gefühle sind da? Wut, Angst, Scham, Stolz, Freude? Vertreibe NICHT die unangenehmen Gefühle, versuche sie anzunehmen. Hol dir gegebenenfall Unterstützung dafür

  1. E: Emotionen verstehen

Frage dich: Was will dir die Emotion sagen? Gab es einen Auslöser? Welches Bedürfnis wurde bei dir angesprochen? Hast du zu schnell bewertet? Nicht jedes negative Signal von aussen, muss etwas bedeuten. Manche Menschen sind einfach unachtsam. Wenn du deine Bedürfnisse besser kennst, kannst du deine emotionale Reaktion besser verstehen und damit umgehen.

  1. E: Emotionen ausdrücken

Unterdrücke deine Gefühle nicht, sondern teile sie mit. Fasse sie in deine eigene Worte. Zuerst für dich selbst, dann für andere. Warte auf den richtigen Augenblick und am besten nicht aus der Emotion heraus!

  1. E: Emotionen regulieren

Es gibt viele Techniken wie du deine Emotionen regulieren kannst: Atme tief ein und doppelt so lange aus, wiederhole das 3x. Mach eine Fantasiereise: Begib dich gedanklich an einen sicheren Ort. Auch Meditationen und Achtsamkeitsübungen können helfen.

  1. E: Emotionen nutzen

Begreife Hochsensibilität als Stärke. Gerade in Beziehungen sind sie unschätzbar wertvoll, weil du sehr schnell erfassen kannst, wenn etwas nicht stimmt. Verlass dich auf dein Gefühl, es zeigt dir meistens den richtigen Weg. Im Arbeitsalltag ist Hochsensibilität ebenso gefragt, z.B. um zwischen zwei streitenden Parteien zu schlichten.

Mein Fazit?

Hochsensibilität ist eng mit der Persönlichkeit verknüpft und keine Krankheit. Je nach Umfeld kann es diesen Menschen aber sehr schwer gemacht werden,  manche fallen durchs Raster und werden tatsächlich krank. Das zu wissen ist schon die halbe Miete, wie ich damit umgehe, wenn ich betroffen bin. Es ist hilfreich sein Umfeld darüber zu informieren, insbesondere wenn es direkt betroffen ist (z.B. Beziehung oder Arbeitsplatz). Statt nach den möglichen Nachteilen zu schauen, lohnt es sich die Vorteile herauszuheben. Wir brauchen mehr einfühlsame Menschen in allen Bereichen unseres Lebens!

 

 

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